Interview von Paulette Lenert im Luxemburger Wort

"Krisenfest"

Interview: Luxemburger Wort (Annette Welsch)

Luxemburger Wort: Paulette Lenert, Sie sind vom Richteramt in die Staatsverwaltung gewechselt - warum?

Paulette Lenert: Ich wollte damals den Beruf wechseln, eventuell sogar etwas ganz anderes machen, wie im Personalmanagement arbeiten oder mich selbstständig machen. Die neue Thematik der Solidarwirtschaft hat mich aber - wie alle Sozialthemen - gereizt.

Luxemburger Wort: Warum dann der Wechsel in die Politik? Was hat Sie daran gereizt?

Paulette Lenert: Politik wurde erst dann eine Option für mich, als ich mich definitiv vom Richterberuf verabschiedet hatte. Als Generalkoordinatorin im Ministerium des öffentlichen Dienstes habe ich ja dann permanent rund um die Politik herum gearbeitet und gerade das Gestalterische daran gefällt mir gut.

Luxemburger Wort: Konnten Sie sich in das gesundheitspolitische Regierungsprogramm mit einbringen?

Paulette Lenert: Nein, ich war als Beamtin aus dem Ministerium für den öffentlichen Dienst mit in die Koalitionsgespräche einbezogen und konnte meine Ideen in diesem Bereich einbringen. An der politischen Architektur der Bereiche, mit denen ich jetzt zu tun habe, habe ich nicht mitgewirkt. Es kam für mich auch unerwartet, in die Regierung aufgenommen zu werden, weil ich ja entschieden hatte, nicht als Kandidat an den Wahlen teilzunehmen.

Luxemburger Wort: Stehen Sie zur Legalisierung des Cannabis oder setzen Sie es um, weil es im Regierungsprogramm steht?

Paulette Lenert: Ich empfinde die Haltung weltweit gegenüber Cannabis heuchlerisch. Cannabis schafft viele Probleme, der Schwarzmarkt provoziert Kriminalität und es wird gesundheitsschädlicher, schlechter Stoff vertrieben. Ich stehe zu 100 Prozent dazu, dass eine ehrliche Politik gemacht wird und die Realitäten anerkannt werden und dass die Regierung hier innovativ war und es positiv regeln will. Es ist eine interessante, relativ gewagte Einstellung, die mir gefällt, aber es ist sozusagen nicht mein Kampf - etwas, für das ich auf die Barrikaden gegangen wäre. Ich freue mich dennoch, auch dieses Dossier voranzubringen.

Luxemburger Wort: Welche Ihrer Eigenschaften hilft Ihnen in der derzeitigen Krise am meisten?

Paulette Lenert: Eigentlich etwas, das ich aus dem Richterberuf mitgebracht habe: Zuhören können, mir Positionen sachlich und neutral anhören und eine eigene Meinung bilden. Aber auch die analytische Vorgehensweise, sich mit komplizierten Sachverhalten auseinanderzusetzen und zu Schlussfolgerungen zu kommen.

Luxemburger Wort: Was ist für Sie das schwierigste an der Covid-19-Krise?

Paulette Lenert: Das Schwierigste ist es, mit der Ungewissheit zu arbeiten und es zu schaffen, diese Ungewissheit auf eine beruhigende Art und Weise der Öffentlichkeit zu vermitteln. Wir hatten hier noch nie eine Pandemie - wir sind in einer Situation, wie wir sie noch nie erlebt haben. Das Schwerste ist es, mit Hypothesen zu arbeiten, die nicht unbedingt gesichert sind: Die Erkenntnisse über das Virus entwickeln sich von Tag zu Tag und man bewegt sich auf ganz schwammigem Terrain, wenn man seine Aktionen dieser Entwicklung anpassen muss. Die Herausforderung ist es, effizient zu sein, schnell und flexibel zu handeln, aber gleichzeitig für die Öffentlichkeit kohärent zu bleiben. Und dabei die Menschen mit auf den Weg nehmen, auch wenn es ein Weg ist, den man nicht bis ins Detail kennt und beherrscht. Denn wir müssen mit Daten arbeiten, die sich im Verlauf der Entwicklung ständig ändern. Kurz gesagt: Die Ungewissheit einfach, die viel Flexibilität im Handeln erfordert und ein großer Challenge für die Kommunikation ist. Wir müssen einfach oft sagen, dass wir es nicht so genau wissen oder dass sich die Erkenntnisse von heute auf morgen geändert haben. Sogar die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation variieren ja - oder positiver gesagt evoluieren.

Luxemburger Wort: Wie jetzt deren Haltung zur Schutzmaske, die zunächst für den täglichen Gebrauch nicht empfohlen wurde, nicht zuletzt weil nicht genug davon verfügbar waren, und nun doch angeraten wird?

Paulette Lenert: Ja, zum Beispiel. Unsere Haltung war und bleibt aber, dass Masken nicht die anderen Hygieneregeln außer Kraft setzen und man Gefahr läuft, sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen.

Luxemburger Wort: Sie lernen gerade im Crashkurs das Gesundheits- und Sozialsystem kennen. Was sind Ihre bisherigen Erkenntnisse?

Paulette Lenert: Wir haben ein gutes Basissystem. Was mich sehr beeindruckt hat, ist die Solidarität und die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Akteure, wie beispielsweise die vier Generaldirektoren der Krankenhauszentren eine sehr gute und enge Zusammenarbeit aufgebaut haben. Es war eine große Herausforderung, ein Monitoring auf die Beine zu stellen in einem System mit freischaffenden Ärzten, die alle ihr eigener Chef und alle quasi eigenständige Strukturen sind. Wir brauchten aber einen zentralen Überblick über alle Daten und das haben wir sehr schnell hinbekommen.

Luxemburger Wort: Welche Daten meinen Sie?

Paulette Lenert: Da geht es beispielsweise um den Bedarf an Material. Wir hatten noch nie eine Situation des Materialmangels, können aber _ nun zu ganz wesentlichen Elementen präventiv planen. Das ist vielleicht das Gute an der Krise, dass wir auf eine brutale Art und Weise gelernt haben, wie wichtig es ist, daten- und faktenbasiert zu arbeiten und mehr Verständnis für eine moderne Form des Managements zu zeigen.

Luxemburger Wort: Das heißt, wir hatten einen Datenmangel?

Paulette Lenert: Es gab noch nicht einmal eine zentrale Datenbank für-den Bedarf in den Krankenhäusern. Jetzt haben wir eine Krisendatenbank erstellt, mit der wir beispielsweise einen Überblick über die freien Intensivbetten haben oder einen über den logistischen Bedarf, mit dem wir helfen können, Material einzukaufen. Man sieht einfach an konkreten Beispielen, wie wichtig es ist, über eine gute Datenverwaltung und ordentliche Daten zu verfügen. Das gilt generell, auch über Krisenzeiten hinaus, für das zukünftige Arbeiten.

Luxemburger Wort: Was ändert die Covid-19-Krise am Gesondheetsdësch und an den Themen, die dort vorgesehen sind?

Paulette Lenert: Wir sind uns derzeit alle einig, eine Klammer um den Gesondheetsdësch zu setzen und uns auf die Covid-Krise zu konzentrieren. In meiner Verwaltung laufen die Vorbereitungsarbeiten aber weiter und ich hoffe, dass wir die Gespräche über den Sommer intensiv wieder aufnehmen können. Die Krise hat hier indirekt auch eine positive Auswirkung: Ich habe den Gesondheetsdësch mit Gesprächspartnern angefangen, die mir quasi unbekannt waren, nun lernen wir uns alle richtig gut kennen, weil wir jeden Tag eng zusammenarbeiten. Und die Krise hat mir in einer Rekordzeit das System im Detail viel näher gebracht: Wie es an der Basis läuft und wie die Krankenhäuser und die einzelnen Akteure funktionieren.

Luxemburger Wort: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Stärken und Schwächen des Systems? Sie haben in der Krise viel mit den in Luxemburg ja freischaffenden Ärzten zu tun - war das ein Hindernis?

Paulette Lenert: Nein, gar nicht. Ich habe auch vor der Krise in den bilateralen Gesprächen mit den Ärzten ganz offene und dialogbereite Partner vorgefunden und das hat sich in der Krise bestätigt. Als Stärke des Systems sehe ich genau diesen stark ausgeprägten Quadripartite-Gedanken - dass man gemeinsam im Dialog in und am System arbeitet. Wenn man den Dialog gesund führt und gesund erhält, gibt das eine gewisse Akzeptanz. Eine weitere Stärke ist, dass wir keine Zwei-Klassen-Medizin haben. Es ist mir wichtig beizubehalten, dass jeder dieselbe Qualität an Leistungen bekommt und auch jeder Akteur am gleichen Strang zieht. Als Schwäche sehe ich klar den Mangel an Personal. Wir stehen vor einer Ressourcenmauer und müssen innovative Wege finden. Wenn man sich die Studie dazu ansieht, ist es eine ganz große Herausforderung, das nötige Personal zu finden, eine gute Ausbildung anzubieten und den Beruf sowie die Arbeitsbedingungen attraktiv zu gestalten. Die Krise hat uns auch wieder ganz brutal vor Augen geführt: Unser System steht und fällt mit den Grenzgängern. Auch hier sind wir gefordert, als Standort attraktiv zu bleiben. Als Stärke sehe ich auch, dass wir einen sehr lebendigen Forschungssektor haben, der weiter gefördert werden muss.

Luxemburger Wort: Wie müssten wir uns aufstellen, um auf eine solche Epidemie besser vorbereitet zu sein?

Paulette Lenert: Nach der Krise ist vor der Krise, wir dokumentieren alles, werten es dann aus und lernen daraus. Man kann immer alles noch besser machen, aber ich finde, dass wir im Vergleich mit unseren Nachbarländern gut vorbereitet sind. Unsere Krankenhäuser sind gut aufgestellt und wir haben Reserven. Wir haben auch rechtzeitig mit der Ausgangssperre die Bremse gezogen und uns die nötige Luft verschafft. Kein Land hätte es fertig gebracht, die Centres de soins avancés mit ihrem Zusammenspiel von Freiwilligen und Professionellen so schnell einsatzbereit zu machen. Es ist wohl eine Besonderheit von Luxemburg: Wenn es darauf ankommt, können wir ganz schnell und ganz pragmatisch gemeinsam handeln. Ich bin nachhaltig beeindruckt und begeistert vom freiwilligen Einsatz und der Solidarität, die ich jeden Tag auf allen Ebenen erlebe. Keiner schaut auf die Uhr, jeder hilft wo er kann und das gibt mir jeden Tag eine Menge Energie und Motivation.

Luxemburger Wort: Die Neuinfektionen sind grosso modo rückläufig. Wann kann mit Lockerungen der Ausgangsbeschränkung gerechnet werden?

Paulette Lenert: Wir kommen jetzt an den Punkt, an dem wir anfangen, eine stabile Datenlage zu bekommen. Aber eine Woche müssen wir die Situation noch beobachten, bevor wir uns festlegen können. In den nächsten acht bis zehn Tagen werden wir wohl eine Basis haben, auf der wir ein solches Szenario aufbauen können. Die Arbeiten daran laufen auf Hochtouren.

 

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