"Ein System wie in der Steinzeit"

Interview von Étienne Schneider im Tageblatt

Interview: Tageblatt (Christian Muter)

Tageblatt: Wie kommt Ihr neues Portfolio an Ministerien zusammen?

Étienne Schneider: Nach jeden Wahlen werden die Karten neu gemischt. Man schaut, was die Interessen der Koalitionspartner sind. Die Frage kommt auf, wer bereit ist, etwas anderes zu tun. Gesundheit schien mir — und das immer mehr — eine interessante Herausforderung zu sein. Die Wirtschaft wollte ich nicht aufgeben. Was den Energiebereich angeht, gibt es eine gewisse Logik hinter der Entscheidung. Claude Turmes gilt in Europa als "Mr. Energie". Als er mich dann fragte, ob er den Bereich haben könne, war es für mich normal, ihm diesen auch zu geben. Immerhin arbeitet man ja kollegial in einer Regierung. Beim Mittelstand war zuvor Francine Closener zuständig, nun Minister Delles. Alles funktioniert nahtlos weiter. Wir sind uns einig, dass das Ministerium weiter als Einheit funktioniert, wie wir es bei der letzten Regierung eingeführt hatten.

Das hilft vor allem dem Mittelstand, um besser bedient zu sein. Und das wird auch so bleiben. Zudem haben wir ein Koalitionsabkommen und kommen gut miteinander aus. Gesundheit ist ein ganz neuer Bereich. Er ist mir aber trotzdem nicht fremd. Immerhin gehören Gesundheitstechnologien zu den Sektoren, die wir in Luxemburg fördern wollen. Jetzt habe ich die Chance, beide Hüte aufzuhaben. Ich glaube, dass es möglich ist, in den kommenden Jahren einen gewissen Elan in den Sektor zu bringen.

Tageblatt: Wird Luxemburg nun im Gesundheitswesen in ein spannendes, visiokres. Projekt, in der Genforschung beispielsweise, einsteigen?

Étienne Schneider: Um von großen Visionen zu reden, bin ich noch zu frisch im Dossier. Es ist aber bereits wirklich viel vorgesehen, das im Koalitionsabkommen steht. Zu meinen Prioritäten zählt die Vorbeugung.

Krankheiten, die man vermeidet, haben nicht nur Vorteile für den, der gesund geblieben ist, auch für die Finanzierung des Gesundheitssystems sind sie die beste Alternative. Zudem wollen wir gegen den Ärzteschwund vorgehen. Die Hälfte unserer Ärzte ist über 50 Jahre alt — 20 Prozent sind bereits im Rentenalter — und nicht besonders viele kommen nach. Wir müssen den Beruf des Arztes wieder attraktiver gestalten. Als eine Möglichkeit zum Gegensteuern sehe ich die Zulassung von Gemeinschaftspraxen für Ärzte. Dann muss man über die technische Ausstattung reden — MRT (Magnetresonanztomografie, auch als IRM bekannt) ist nur ein Stichwort, es gibt noch viele andere. Das darf den Krankenhäusern jedoch keine unfaire Konkurrenz machen. Ich werde mit dem gesamten Gesundheitsbereich sprechen. Ich glaube, wir werden das hinkriegen. Um dem Patienten das Leben zu vereinfachen. Auf dass er nicht für jede Analyse ins Krankenhaus muss — das geht besser dezentral in seiner Region. Eine Zwei-Klassen-Medizin will ich, wie auch meine Vorgänger, sicherlich nicht.

Ich stelle aber fest, dass wir heute bereits da sind. Etwa wenn ein Patient, der es sich leisten kann, im Ausland selber für eine MRT bezahlt. Wer es sich nicht leisten kann, muss jedoch Wochen und Monate warten. Das kann nicht sein. Daher will ich diese Öffnung, diese Dezentralisierung. Wir müssen handeln. Immerhin können die Behandlungen erst nach den Analysen beginnen. Das Warten ist nicht im Interesse des Patienten, der wissen will, an was er leidet. Das alles will ich mir im Detail anschauen und dann damit automatisch auch den Beruf des Arztes aufwerten. Auch in puncto Notaufnahme ist es nicht annehmbar, wenn Menschen stundenlang warten müssen. Hier muss der Empfang verbessert werden. Eine grundlegende Reform ist notwendig. Der Service muss besser und schneller werden. Und das sind nur einige der Themen. Hinzu kommt die Digitalisierung des Gesundheitssektors. E-Health, Umsetzung des „tiers payant" und eine Digitalisierung der Patientenakte beislsweise. Auch das macht den Menschen das Leben einfacher. Es vermeidet unnötige Wiederholungen von Analysen. Und es erhöht nicht nur die Effizienz, sondern spart der Allgemeinheit auch viel Geld.

Tageblatt: Hat es nicht besonders wehgetan, das Energieministerium abzugeben?

Étienne Schneider: Nein, das gar nicht. In dem Bereich war ich nun sieben Jahre lang Minister. Es hat aber nicht wehgetan. Und ich habe im Gegenzug eine neue Herausforderung erhalten. Es ist gut, von Zeit zu Zeit etwas Neues zu tun. Im Energiebereich habe ich meinen Teil beigetragen — Claude Turmes als Nachfolger ist eine gute Wahl.  

Tageblatt: Wie geht es weiter mit dem Space Mining? Jetzt, wo zwei wegweisende Firmen weggefallen sind...

Étienne Schneider: Eigentlich ist nur ein Unternehmen betroffen. Das zweite (Deep Space Industries) wurde einfach aufgekauft. Es wird Luxemburg nicht verlassen und auch seine Ideen nicht aufgeben. Kurzfristig gibt es Veränderungen. Langfristig wird aber alles gleich bleiben. Wir werden uns auch in Kürze mit den neuen Aktionären treffen. Es gibt aber keine Anzeichen, dass sie etwas an ihrer Beziehung mit Luxemburg ändern wollen. Das Planetary-Resources-Dossier ist schiefgelaufen. Das kann vorkommen. Viele Menschen haben sich dort geirrt. Auch Richard Branson sowie Gründer von Google und Microsoft sind mit dem Projekt "bäigelaf". Auch sie hatten drin investiert. Es hat sich nicht so entwickelt wie geplant. Wer Risiken eingeht, kann auch mal verlieren. Wer aber nichts wagt, der wird nichts gewinnen.

Ich erinnere auch daran, wie viel wir in den Bereich der Logistik investiert hatten, ehe es so richtig losging. Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Auch will ich, wenn ich an die CSV denke, daran erinnern, dass Luxemburg wegen des Nicht-Baus von Kläranlagen durch den früheren Minister Halsdorf 6 Millionen Euro Strafe zahlen musste. Das war definitiv mehr als überflüssig. Da hatte einfach ein Minister seine Arbeit nicht gemacht. Ich mache meine Arbeit. Ich versuche einen neuen Sektor mit viel Potenzial für Luxemburg zu entwickeln.

Tageblatt: War Space Mining einfach nur eine effiziente Werbeaktion, um dann mit Erfolg Weltraumfirmen nach Luxemburg zu locken?

Étienne Schneider: Ein Werbe-Gag war es nicht. Wir wurden selber von den weltweiten Reaktionen in den Medien überrascht. Das war nicht vorgesehen. Es war ein durchdachtes Projekt. Wir hatten uns nur mit Experten unterhalten. Und wir lagen richtig. Das wird uns immer wieder von anderen Ländern, die mitmachen wollen, von Deutschland bis Kasachstan, bestätigt. Die Aufmerksamkeit durch die Medien war aber ein willkommener Seiteneffekt. Es zeigt, dass Luxemburg mehr als nur ein Finanzplatz ist. Es zeigt, dass Luxemburg ein Platz für Hightech ist. Und ein Land, das Mut zu Neuem hat.

Tageblatt: Die luxemburgische Wirtschaft wächst. Die Zahl der Jobs legt weiter zu. Was ist von der Debatte um qualitatives Wachstum übriggeblieben?

Étienne Schneider: Das ist eine gute Frage: Ich war der böse Wirtschaftsminister, der am Wachstum festhält. Ich hatte vorhergesagt, dass das nach den Wahlen kein Thema mehr sein wird — und das ist nun auch so. Ich höre auch nichts mehr davon. Wir brauchen Wachstum, wenn wir unseren Wohlstand halten wollen. Wer etwas anderes behauptet, der muss zuerst erklären, an welchen Stellen er denn die Hunderten Millionen einsparen will, die dann fehlen. Bei mir landen immer nur Anfragen nach mehr Ausgaben. Wir brauchen Wachstum, aber wir müssen es verträglicher organisieren. Es muss auf Produktivitätszuwächse und nicht auf Personalzuwächse basieren. Mit der Digitalisierung wird das möglich: mehr Wachstum mit weniger Arbeitskräften. Das wird auch kommen. Da setze ich darauf. Beispiel Gesundheit: Das archaische System mit den vielen Zetteln und Einsenden ("tiers payant") ist überflüssig. Das System ist ja ein Hohn.

Künftig kann alles zeitgleich über eine digitale Patientenakte ablaufen.

Tageblatt: Wird es künftig wie in Estland möglich sein, über ein digitales System ein Rezept vom Arzt zu erhalten, ohne da gewesen zu sein?

Étienne Schneider: Genau das wird auch hier kommen. Stichwort: Telemedizin. Es muss aber sichergestellt sein, dass der Arzt seinen Patienten kennt. Sie müssen bereits da gewesen sein. Es macht keinen Sinn, alle paar Monate wieder zum Arzt zu gehen, um beispielsweise alte Rezepte zu verlängern ... und dann nach dem Besuch in der Apotheke die Rechnung auf Papier einschicken. Das ist ein System wie in der Steinzeit. Den Menschen muss das Leben einfacher gemacht werden. Der administrative Wasserkopf muss schrumpfen. Das sind alles Prioritäten.

Tageblatt: Es ist überraschend, zu sehen, wie viele Blotech-Aktivitäten es bereits in Luxemburg gibt...

Étienne Schneider: Mehr als 130 solcher Firmen gibt es bereits im Land. Als Wirtschaftsminister bin ich nun froh, das machen zu können. Alles aus einer Hand. Ich war irgendwie traurig, dass der Bereich immer wieder ins Stocken geriet. Nun will ich ihm neuen Elan geben. Wir brauchen noch eine "Agence des médicaments". Ein japanisches Unternehmen will bald hier Medikamente herstellen. Ich will, dass Forschung in Luxemburg betrieben wird. Da werden Lizenzen für den Gebrauch benötigt. Wir sind das einzige Land Europas, wo es keine derartige Agentur gibt.

Zudem müssen wir neue Mediziner anziehen. Viele Luxemburger studieren im Ausland, beginnen dort zu arbeiten und kommen nie wieder zurück. Um das zu ändern, setze ich auf die Universität. Das Medizinstudium ausbauen. Und den Mangel an Medizinern gibt es übrigens in allen westlichen Ländern ...

Tageblatt: Die angekündigte Legalisierung von Cannabis fällt in Ihren Aufgaben Bereich?

Étienne Schneider: Von diesem Thema sind viele Ministerien betroffen: das Justizministerium für die Legalisierung, das Gesundheitsministerium für Vorbeugung und das Festlegen von Konsumkriterien, das Finanzministerium für die Steuern und das Landwirtschaftsministerium für die Produktion. Ich bin dabei, eine interministerielle Task Force auf die Beine zu stellen. Zudem habe ich bereits Kontakt mit Kanada aufgenommen. Von dem Land wollen wir uns inspirieren. Gemeinsam mit dem Justizminister wollen wir ein Treffen mit unseren kanadischen Homologen. Wir wollen von ihren Lehren lernen. Um keine Fehler zu wiederholen. Um zu sehen, wie das System von Produktion, Konsum und Vorbeugen bei ihnen funktioniert.

Tageblatt: Was sieht der Zeitplan vor?

Étienne Schneider: Es gibt noch kein festgelegtes Timing. Klar ist aber, es ist das Thema, auf das ich — seit ich Gesundheitsminister wurde — am häufigsten angesprochen wurde. Daher gibt es einen gewissen Druck zum Handeln. Ich versuche nicht, das auf die lange Bank zu schieben.

Tageblatt: Auf der Webseite des Parlaments war zuletzt zu lesen, es würde erst eine Phase der Entkriminalisierung und dann der vollständigen Legalisierung geben...

Étienne Schneider: Was auf der Webseite des Parlaments zu lesen war, ist nur eine Option: zuerst den Besitz nicht mehr strafbar machen. Das könnte eine erste Etappe sein. Entschieden ist das aber noch nicht. In einer zweiten Etappe würden wir dann die Fragen zu Produktion und Vertrieb stellen. Etwa: Wie organisieren wir das Vorbeugen? Es geht ja auch darum, die Einnahmen für diesen Zweck zu nutzen.

Tageblatt: Werden alle Einnahmen für das Vorbeugen gegen Cannabiskonsum genutzt werden?

Étienne Schneider: Im Koalitionsabkommen steht, dass die Einnahmen mehrheitlich dazu genutzt werden sollen. Dabei geht es nicht nur um das Vorbeugen gegen Cannabis. Da soll es um Vorbeugen gegen alle möglichen Drogen gehen. Wir haben festgestellt, dass der, der Cannabis konsumieren will, es sowieso tut. Wir wollen jedoch verhindern, dass die Person beim Kaufen in das kriminelle Milieu abrutscht. Zudem sollen die Produkte sauber sein. Der Staat wird regulieren und den Menschen das Leben einfacher machen.

Tageblatt: Wie soll das praktisch ablaufen?

Étienne Schneider: Ich denke derzeit, dass eine eigene Agentur Lizenzen ausstellen wird — für Produzenten und für Verkäufer. Das muss jedoch jeweils an Bedingungen geknüpft werden. Es muss aber sichergestellt werden, dass nur Bewohner des Landes einkaufen können und dass eine Quantität fixiert wird, die der Einzelne pro Monat kaufen darf. Das alles könnte über die ID- oder die "Sécurité sociale"-Karte geregelt werden. Auch bräuchten wir eine Agentur, um die Produktion zu regulieren. Das sind derzeit aber nur Überlegungspisten. Entschieden ist noch nichts.

Tageblatt: Zurück zur Wirtschaft: Bei uns steigt der Reichtum des Landes - aber der Wahlstand der Bürger stagniert...

Étienne Schneider: Das ist uns bekannt. Daher arbeiten wir daran, die Kaufkraft derer zu stärken, die an dem Wachstum nicht teilhaben. Wobei zu bemerken ist, dass die Infrastruktur jedem dient: Crèches, Schulbücher, iPads. Alles dank der guten Wirtschaft. Gleichzeitig wollen wir den Menschen einen höheren Mindestlohn, mehr Urlaub und mehr Freizeit geben. Vor allem jenen, die am schlechtesten gestellt sind. Die, deren Löhne nicht steigen.

Tageblatt: Werden noch mehr Feiertage folgen?

Étienne Schneider: Wir haben ein Koalitionsabkommen. Auch versuchen wir die Arbeit flexibler zu gestalten, etwa mit Arbeitszeitkonten. Auch „télétravail" kann hier mithelfen, gerade bei jungen Familien. Für den Arbeitgeber ist es unwichtig, ob ein Dossier zwischen 14 und 18 Uhr abgearbeitet wird oder in der Nacht. Zufriedene Mitarbeiter sind gute Mitarbeiter. Er hilft auch bei der Mobilität. Oder falls jemand Halbzeit arbeitet, um das Kind zum Sport zu bringen.

Tageblatt: Werden Sie während Ihres gesamten Mandats im Amt bleiben?

Étienne Schneider:  Die Frage beim Referendum, ob man die Mandatszeit auf zwei begrenzen soll, kam von mir. 70 Prozent der Wähler sprachen sich dagegen aus. Ich bin für fünf Jahre gewählt und plane auch nicht, das nicht weiterzumachen. Mit sieben Jahren bin ich auch noch nicht so lange dabei. Sollte ich jedoch irgendwann glauben, dass es reicht, dann werde ich das tun. Auf einem Stuhl kleben will ich nicht.

Tageblatt: Haben Sie noch eine Botschaft?

Étienne Schneider: Es freut mich, dass wir ein richtiges demokratisches Land geworden sind. Wir haben keine Debatte mehr über eine illegale Regierung. Eine Mehrheit von 32 oder 31 Sitzen ist eine Mehrheit. Punkt. Und ich bin sicher, mit 31 Sitzen würde auch die CSV die Gelegenheit nicht entgehen lassen. So ist nun mal das demokratische Spiel. Auch bemerke ich, dass sich die LSAP erneuert hat. Ein Drittel sind neue Minister. Die LSAP wird die Erneuerung schaffen und sich an die Gesellschaft anpassen. Von Zeit zu Zeit muss jeder sich in-frage stellen.

 

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